Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden.

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Deutschlandfunk vom 18.10.2009
Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden
können
Als 1990 das Human Genome Project ins Leben gerufen wurde,
flogen die Erwartungen himmelhoch. Man hoffte, durch die schlichte Entschlüsselung
des menschlichen Erbguts Krankheiten wie Diabetes, Multiple Sklerose, Parkinson
oder Alzheimer heilen zu können, durch eine "schlichte Gentherapie",
bei der Krankes ersetzt würde wie ein defekter Motor in einem Auto.
Von Dagmar Röhrlich
Im Jahr 2000 wurde auf einer medienwirksamen Pressekonferenz in Anwesenheit des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton und einem über Satellit zugeschalteten Tony Blair die "zweifellos wichtigste, wundervollste Karte, die je von Menschen erschaffen wurde" vorgestellt - so verkündete es damals die beiden harten Konkurrenten im Sequenziergeschäft Francis Collins der Chef der Human Genome Organisation und Craig Venter von Celera Genomics: Nicht weniger als ein neues Zeitalter der Biologie sollte anbrechen, ein biologisches Jahrtausend.
Neun Jahre später sind die vollmundigen Statements Vergangenheit: Die Revolution wurde abgesagt, weil inzwischen klar ist, dass das Genom, das "Buch des Lebens", viel rätselhafter ist als damals - wohl naiverweise - angenommen. Nur ein einfaches Beispiel: In jeder unserer Körperzellen steckt das gleiche Erbgut, und doch ist eine Nervenzelle eine Nervenzelle, eine Knochenzelle eine Knochenzelle und eine Muskelzelle eine Muskelzelle. Bei der Frage, wie sie sich differenzieren, kommt ein neues Zauberwort ins Spiel: Epigenetik - der schnell aufgehende Star unter den Forschungsgebieten.
Die Epigenetik erforscht die Strukturen, die jeder einzelnen Zelle ihre Identität verleihen, und die alle zusammen das Epigenom bilden. Mit seiner Hilfe "weiß" eine Zelle nicht nur, dass sie eine Nervenzelle ist und was sie zu tun hat, die Epigenetik schafft auch eine Schnittstelle zwischen Genen, Umwelt und Psyche. Von der Zeugung bis zur Bahre ist sie der Hebel, mit dem Umwelt oder Psyche die Aktivität der Gene beeinflussen und es dem Körper so erlauben, sich anzupassen.
Es sind Zusammenhänge wie diese, die den Naturwissenschaftler und Romanautor Bernhard Kegel faszinieren und über die er sein Buch geschrieben hat. Und er beginnt mit Överkalix, einem abgelegenen schwedischen Dorf. Dort gibt die Dorfchronik Auskunft über so ziemlich alles, was in den vergangenen 200 Jahren passiert ist, und bei der statistischen Auswertung stellte sich heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen der Ernährung der Großelterngeneration und der Lebenserwartung der Enkel geben könnte. Allerdings stand diese Statistik aufgrund der Zahl der Betroffenen auf eher tönernen Füßen.
Bernhard Kegel legt in seinem Buch die Prinzipien der Epigenetik mit Leidenschaft dar, denn er ist davon überzeugt, dass sie die Biowissenschaften revolutionieren wird - und das möchte er gerne vorantreiben. Und um eine Revolution geht es wirklich: Sollten sich die Hinweise bestätigen, gerät die klassische Vererbungslehre ins Wanken. Diese Leidenschaft ist es auch, die ein "Aber" in die Kritik bringen - denn der Autor deutet die Schwachpunkte der Theorie nur an. Und davon gibt einige, etwa der, dass eine über viele Generationen dauerhafte Vererbung solcher erworbenen Eigenschaften bisher nicht dokumentiert worden ist. Oder der, dass nicht klar ist, wie die Weitergabe der erworbenen Informationen molekularbiologisch funktioniert.
Sofern dem Leser jedoch bewusst bleibt, dass es dem Autor darum geht, eine "Theorie für das nächste Jahrtausend" bekannt zu machen, bietet das leicht verständlich und flüssig geschriebene Buch einen sehr guten Einstieg in das Thema Epigenetik. Und die ist auf jeden Fall ein Thema, das uns in den kommenden Jahren begleiten wird, denn es ist ein sehr wichtiges Forschungsgebiet.
Die Welt vom 5.12.2009
Von Marion Lühe
Es klingt unglaublich: Das frühe Rauchen von Vätern sorgt bei den Söhnen für Übergewicht, und ob der Großvater als Heranwachsender hungerte oder im Überfluss lebte, beeinflusst die Lebenserwartung seiner männlichen Enkel. Sollte also an der lange Zeit belächelten Idee des Franzosen Jean-Baptiste de Lamarck von der Vererbung erworbener Eigenschaften doch etwas Wahres dran sein? Muss Charles Darwins Evolutionstheorie überdacht und durch die neuesten Forschungsergebnisse der Epigenetik etwa erweitert werden? Der Schriftsteller und Biologe Bernhard Kegel bietet eine detaillierte Einführung in die Erkenntnisse einer noch jungen Wissenschaft, deren Zukunftspotenzial er jedoch in den höchsten Tönen preist. Sachkundig, für den Laien allerdings nicht immer ganz leicht nachzuvollziehen, erklärt Bernhard Kegel, wie Erfahrungen in den Zellen zu biochemischen Veränderungen führen, die dann an kommende Generationen vererbt werden. Die alte Debatte über das Verhältnis von Umwelteinflüssen und genetischen Erbanlagen erhält durch Bernhard Kegels Buch ganz neue und wichtige Impulse.
Saarbrücker Zeitung vom 17.12.2009
Wer sitzt am Gen-Hebel?
Meisterlich: Bernhard Kegel über das Vererben von Erfahrungen
Etwa 19 000 Gene lenken unsere etwa 200 Zelltypen. Nicht alle Gene sind
in jeder Zelle zu jeder Zeit aktiv. Bernhard Kegel erklärt, inwieweit
...
Von SZ-Redakteur Martin Lindemann
Als sich die Wissenschaft 1990 mit großem Aufwand daran machte, im Rahmen des Humangenom-Projekts sämtliche Gene des Menschen zu entschlüsseln und somit die Geheimnisse des Erbguts aufzudecken, brach eine Zeit der Heilsversprechen an. Die Forscher ließen uns glauben, in Kürze fast alle Krankheiten besiegen und problematische Verhaltensweisen korrigieren zu können. Fast jeden Tag wurde eine neue Entdeckung präsentiert: das Alkoholismus-Gen, das Depressions-Gen, das Gewalttätigkeits-Gen. 2003 wurde das Projekt für abgeschlossen erklärt, doch die Forscher konnten ihre Versprechen nicht halten.
So weiß man heute, dass der Mensch nur rund 19 000 statt der ursprünglich vermuteten 140 000 Gene hat. Diese Gene enthalten die Baupläne für die Eiweiße (Proteine), aus denen die etwa 200 Zelltypen unseres Körpers aufgebaut werden. Jede Körperzelle verfügt über einen kompletten Bauplan. Doch nicht alle Gene sind in jeder Zelle zu jeder Zeit aktiv. Wer aber schaltet Gene ein und aus?
Mit dieser Frage befasst sich der Wissenschaftspublizist Bernhard Kegel in seinem Buch "Epigenetik - Wie Erfahrungen vererbt werden". Der Untertitel verweist auf eines der spannendsten Forschungsfelder der heutigen Zeit. Denn es häufen sich die Hinweise, dass Umwelteinflüsse unser Erbgut beeinflussen und dadurch verursachte Veränderungen vererbt werden können. Noch sind die Beweise dünn. Doch eine schwedische Studie kam zu dem Ergebnis, dass Großväter, die im Alter von neun bis zwölf Jahren stets reichlich gegessen und sich eine Fettschicht angefuttert haben, das Leben ihrer Enkel um viele Jahre verkürzen. Die Nachkommen starben vermehrt an Diabetes. Eine englische Studie führte den Nachweis, dass Väter, die schon mit elf oder früher zur Zigarette gegriffen hatten, überdurchschnittlich oft stark übergewichtige Söhne haben. Die genauen Zusammenhänge sind noch nicht geklärt.
Tierversuche haben allerdings gezeigt, dass die Art der Nahrung Einfluss darauf hat, ob an der DNA, in der die Gene stecken, Moleküle andocken. DNA-Abschnitte, die durch bestimmte angehängte Moleküle markiert sind, werden bei einer Zellteilung nicht mitkopiert. Damit wird verhindert, dass zumindest ein Teil der im Erbmolekül vorhandenen endogenen Viren bei der Zellteilung mitkopiert werden. Ergebnisse australischer Forscher deuten darauf hin, dass eine spezielle Nahrung den Aufbau neuer Molekülanhängsel fördern, dadurch bestimmte Gene stummschalten und einer Zellschädigung vorbeugen kann. Doch viele dieser epigenetischen Markierungen kommen und gehen einfach per Zufall.
Diese komplizierten Zusammenhänge beschreibt Kegel meisterhaft. So berichtet er von springende Genen, so genannten Transposons, die sich in unserer DNA als quasi-parasitische Elemente herumtreiben. Sie vermehren sich selbst, lassen sich bei jeder Zellteilung mitkopieren und wechseln zudem weitgehend zufällig ihre Position. Diese springenden Gene waren und sind eine wichtige Ursache für Gen-Veränderungen. Heute gehen zwei von 1000 neuen Erbgutänderungen des Menschen auf ihr Konto - ein Grund für die Vielfalt des Lebens. Die Forschung an Zwillingen, die genetisch identisch sind, hat gezeigt, dass der Ausbruch einer Krankheit (etwa Alzheimer, MS, Schizophrenie, Arthritis) bei einem Zwilling auf unterschiedliche epigenetische Veränderungen zurückzuführen ist.
Denn der epigenetische Anhang der DNA wird bei der Zellteilung häufig mitkopiert. Bei der Kopie treten viel häufiger Fehler auf als bei der Kopie der Gene selbst. Das führt im Laufe eines Lebens zu größeren Veränderungen als der Einfluss der Umwelt. Wie groß der Einfluss der Umwelt dabei ist, kann derzeit aber noch niemand sagen.
Die Presse vom 4.12.2009
Ein schöner Hintern.
Es gibt einen Weg der Vererbung jenseits der Gene. Das ist
das – wissenschaftlich begründete – Credo des Biologen
Bernhard Kegel in seinem Band „Epigenetik“.
Von Markus Hengstschläger
Wer ein populärwissenschaftlichesBuch über eine so komplexe Thematik wie etwa die Genetik des Menschen schreibt, muss beides können – mit klaren Definitionen arbeiten und spannende Geschichten erzählen. Bernhard Kegel kann beides. Wer seinen Lebenslauf studiert, ist darüber vielleicht nicht erstaunt. Denn Kegel ist einerseits promovierter Biologe (und weiß daher, wovon er spricht), andererseits ist er preisgekrönter Romanautor (zuletzt „Der Rote“). Beim Lesen seines neuesten Werkes erlebt man zusätzlich, dass Kegel außerdem ein erfolgreicher Musiker (Jazzgitarrist) ist. Von „piano“ über „forte“ bis „con tutta la forza“ enthält diese wissenschaftliche Partitur für den Laien angemessene Vielschichtigkeit – „vivace“ und „replica“ wird gesetzt, wo es nötig ist, Leser in die faszinierende Welt der Genetik mitnehmen zu können. Und der Refrain: Es gibt einen zusätzlichen Weg der Vererbung jenseits der Gene.
„Das Genom ist die Gesamtheit der genetischen Information, die mithilfe der DNA vererbt wird“, liest man da eine oft verwendete Definition. Ein Mensch besteht aus vielen verschiedenen Zelltypen – Hautzellen, Muskelzellen, Blutzellen et cetera. All diese Zellen eines Individuums haben das gleiche Genom. Wenn Hautzelle und Muskelzelle eines Menschen aber genetisch identisch sind, warum sind diese Zellen dann doch so verschieden? Eine Antwort darauf findet man „unter dem Dach der Epigenetik“. Das Genom trägt in den verschiedenen Zellen quasi verschiedene Kleider.
„Unter dem Dach der Epigenetik sind mittlerweile über 20 verschiedene Mechanismen beschrieben worden. Fast alle epigenetischen Mechanismen haben damit zu tun, dass die DNA in den Zellkernen nicht nackt vorliegt, sondern sowohl kurz- als auch langfristig Verbindungen mit anderen Molekülen eingeht“, erklärt der Autor. Haut- und Muskelzellen haben zwar die gleichen Gene, sie verwenden aber verschiedene davon. In der Hautzelle ist ein anderes Set an Genen ein- beziehungsweise ausgeschaltet als in der Muskelzelle. Sobald sich, zum Beispiel im Zuge bestimmter Zelldifferenzierungen, zellspezifische Genexpressionsmuster entwickelt haben, können epigenetische Mechanismen dafür verantwortlich sein, dass diese Muster des Ein- beziehungsweise Ausschaltens im Zuge der Zellteilung von der Mutterzelle auf die beiden Tochterzellen stabil weitergegeben werden. Der Autor bedient sich dafür einer Definition von Gary Felsenfeld: „Epigenetik ist das Studium von vererbbaren Veränderungen der Genfunktion, die nicht durch Veränderungen der DNA-Sequenz erklärt werden können.“
Wie Gene nachhaltig und weitergebbar ein- und ausgeschaltet werden, welcher Mechanismen sich also die Epigenetik bedient, muss in solch einem Buch genau erklärt werden. Der Autor beschreibt in den ersten Kapiteln die bekanntesten molekularen Mechanismen der Epigenetik. Die DNA kann etwa durch Methylierung direkt chemisch modifiziert werden. Oder die Aktivität bestimmter DNA-bindender Proteine, der Histone, kann durch Acetylierung reguliert werden. Nach einem Zwischenresümee beschreibt Kegel außerdem im Kapitel mit?dem „vielversprechenden“ Titel „Ein schöner Hintern – die RNA-Welt“ die Wechselwirkung zwischen epigenetischen Mechanismen, die die Genaktivität vor der Übersetzung von DNA in RNA regulieren, und den Mechanismen, die danach regulierend eingreifen. Zu Letzteren gehört etwa die RNA-Interferenz, für deren Entdeckung Andrew Fire und Craig Mello 2006 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurden.
Die Raupe und der Schmetterling haben das gleiche Genom, aber verschiedene Epigenome. Auch die Tatsache, dass „aus den Eiern derselben Königin mal sterile Arbeiterinnen und viel seltener immens fruchtbare und sehr viel größere Königinnen entstehen“, ist nicht auf genetische, sondern auf epigenetische Unterschiede zurückzuführen. Der verschiedene epigenetische Code ist auch verantwortlich dafür, dass Arbeiterinnen und Königinnen der Honigbiene extrem unterschiedliche Lebenserwartungen haben und ein völlig anderes Verhalten zeigen. Beispiele wie diese sind mitverantwortlich dafür, dass das Buch stets spannend bleibt. Nicht selten ertappt man sich beim Lesen mit einem Grinsen auf den Lippen.
Eineiige Zwillinge sind zwar genetisch identisch, aber in keiner Weise epigenetisch gleich. Kegel erzählt auch von Studien, die zeigten, dass sich der epigenetische Code im Lauf des Lebens einer Person mit dem Alter ändert. „Ältere Zwillingspaare sind genetisch identisch, aber epigenetisch verschieden, und die Abweichungen sind umso größer, je unterschiedlicher das Leben der beiden Zwillinge verlaufen ist.“ Da Epigenetik erwiesenermaßen auch eine Rolle bei der Entstehung von Erkrankungen des Menschen hat, wäre das auch ein Ansatz für weitere Untersuchungen, um besser verstehen zu können, warum ein Mensch an Krebs oder Schizophrenie erkrankt, während sein genetisch identischer Zwillingsbruder nicht die geringsten Symptome zeigt, so der Autor.
Ganz im Stil einer spannenden Partitur erlebt das Buch immer dann Tempo- und Ausdruckswechsel, wenn es um die Diskussion geht, inwieweit epigenetische Modifikationen der DNA nicht nur von einer Zelle auf die nächsten, sondern eben auch von einer Generation auf die nächsten weitergegeben werden. Während das bei Pflanzen wissenschaftlich bereits öfter und besser belegt ist, sind im Tierreich die Beweise epigenetischer Vererbung noch rar. An dieser Stelle muss es also „descrescendo“ und „ritenuto“ werden, um höchstmöglicher wissenschaftlicher Korrektheit treu zu bleiben.
Wenn der epigenetische Code im Laufe eines Lebens durch Umwelteinflüsse und Lebensweise beeinflussbar ist und gleichzeitig aber zumindest Teile der chemischen Modifikationen der DNA an die nächste Generation vererbbar sind, dann bestünde Bedarf, die Wiedergeburt der Idee der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften zu feiern. Der Autor erinnert an dieser Stelle zu Recht daran, dass dieses Konzept nicht nur von Lamarck, sondern auch von vielen seiner Zeitgenossen, bis hin zu Darwin, ernsthaft ins Kalkül gezogen wurde. Daran muss gerade im Darwin-Jahr erinnert werden, in dem viel zu oft fälschlicherweise Darwins Arbeit (Mutation–Selektion) als Gegenthese zu einer angeblich von Lamarck vertretenen Position diskutiert wird. Die Idee von der Vererbung erworbener Eigenschaften an die nächste Generation war damals weit verbreitet.
Der Autor erzählt in diesem Zusammenhang von den viel und kontrovers diskutierten, Ende der 1990er-Jahre veröffentlichten wissenschaftlichen Beobachtungen an Menschen aus Överkalix, einer kleinen Gemeinde in der schwedischen Provinz Norrbotten. Sozialmediziner haben in detaillierten Studien statistische Beweise dafür beschrieben, dass etwa ein Nahrungsüberfluss des Großvaters das Leben seiner Enkel um viele kostbare Jahre verkürzt. Dagegen erhöhte sich die Lebenserwartung der Enkel in etwa demselben Maß, wenn der Großvater Not leiden musste. Getreu dem aktuellen Stand der Wissenschaft argumentiert der Autor an dieser und an vielen anderen Stellen des Buches, dass noch viele Fragen offen sind. Klar ist aber schon jetzt: Der Mensch ist auf seine Gene nicht reduzierbar. Er ist das Produkt der Wechselwirkung zwischen Genetik und Umwelt. Die Gene sind Feder und Papier, die Geschichte schreiben wir selbst, und die Tinte ist die Epigenetik.
Spiegel Online vom 25.11.2009
Die Erforschung des Zellinneren:
Da bleibt der Laie außen vor. Es sei denn, er liest das
verständliche Werk von Bernhard Kegel.
Von Sibylle Mulot
Das menschliche Genom entschlüsselt, aber nicht enträtselt: ein komplizierter Schaltplan ohne Gebrauchsanweisung. Wo sind sie, die Gene für unsere Zivilisationskrankheiten? Wieso erkrankt von eineiigen Zwillingen manchmal nur der eine an Krebs, Diabetes, Depression? Und können umweltbedingte Veränderungen, anders als bisher angenommen, ohne Mutation vererbt werden?
Das "epigenetische" Zeitalter hat begonnen
- die Suche, was "nach" (epi) der Genetik kommt, also Mechanismen,
die die DNA zwar nicht mutieren, aber anders reagieren und wirken lassen,
und dies auch noch im Erbgang.
Warum lebten Enkel wesentlich länger, wenn ihre Großeltern väterlicherseits
zwischen neun und zwölf Jahren gehungert hatten? Und starben deutlich
früher, diabetisch und herzkreislaufkrank, falls Opa und Oma sich in
diesem Zeitraum zu voll gestopft hatten?
Ließen sich menschliche Keimdrüsen also zu bestimmten Zeiten von der Umwelt so nachhaltig beeindrucken, dass sie Reaktionen auf Nachkommen vererbten?
Bernhard Kegel widmet sich in seinem Buch in bekannt flüssigem, elegantem Stil der schwierigen Aufgabe, die längst noch nicht abgeschlossenen Forschungen zum Zellinnern so durchsichtig zu machen, dass auch Laien sie verstehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.10.2009
Lange Hälse sehen uns an.
Von Joachim Müller-Jung
In der manchmal unbegreiflichen Häme, die inzwischen über die Genomforschung ausgeschüttet wird, schwingt meist auch ein auffallend beleidigter Ton mit. Die großen Erwartungen wurden enttäuscht, die Propheten der Revolution sind verstummt, und das „Buch des Lebens“ – das Genom – scheint auf den hinteren Kapiteln immer rätselhafter statt erhellender zu werden. Peter Spork und Bernhard Kegel hätten mit ihrem Stoff einiges beitragen können, dieses postgenomische Trauma noch zu vertiefen. Denn die Epigenetik, eine in jüngerer Zeit regelrecht aufblühende Forschungsrichtung, hat wohl tatsächlich das Zeug dazu, den wahren Beitrag der Gene zu den diversen Lebensprozessen aufzuklären – ja, immer öfter auch zu relativieren.
Die Epigenetik ist es im Grunde sogar erst, die sich einen direkten Zugang zu den lebensentscheidenden Schnittstellen zwischen Genen, Umwelt und Psyche von der Embryonalentwicklung bis ins Alter verschafft. Und sie könnte, indem sie die – oft von außen gesteuerten – Kontrollinstanzen der Aktivitäten im Genom aufspürt, das häufig rätselhafte Missverhältnis zwischen innerer (Genotyp) und äußerer Erscheinung (Phänotyp) aufklären. Aber so weit ist es noch nicht. Es endgültig zu versprechen wäre auch wieder nur eine maßlose Übertreibung.
Lamarcks Rehabilitation
Und so darf man die beiden mit vielen neuen Forschungsergebnissen angereicherten
Bücher von Spork und Kegel auch nicht wie die Protokolle einer neuen
Biorevolution lesen. Wie die Ankündigungen einer solchen allerdings
schon. Bei Kegel sicher etwas emphatischer und detailverliebter als in dem
pragmatischeren, für viele Laien sicher leichter zugänglichen
Buch von Spork. Ganz besonders deutlich wird der Unterschied im visonären
Gehalt in der Aufarbeitung des Lamarckismus oder, wie Kegel schreibt, der
„Lamarck’schen Dimension“ einer erweiterten Evolutionstheorie.
Jeder kennt das von Jean-Baptiste de Lamarcks Nachfolgern verspottete Beispiel
der Giraffe, deren Hals angeblich nur deshalb so lang wurde, weil sich die
Tiere immer wieder nach den höchsten Blättern an den Bäumen
streckten.
Im Grunde, darin stimmen Spork und Kegel überein, war dieser Fehlgriff des Franzosen nur ein unbedeutendes Detail in dessen umfassender Evolutionstheorie, in der die Möglichkeiten der Vererbung von im Laufe des Lebens erworbenen Eigenschaften umfassend erörtert werden. Kegel hält eine Rehabilitation Lamarcks für dringend angebracht, Spork zumindest für möglich. Ausschlaggebend dafür sind die in den letzten Jahren in Patientenregistern und Mäuseexperimenten, in Laborkulturen von Pilzen und Bakterien zutage geförderten Beispiele, die zeigen, wie etwa Stressresistenz oder die nach Hungersnöten entstandene Neigung zu Fettsucht nicht etwa durch die Vererbung mutierter Gene, sondern offenkundig durch die Übertragung veränderter Aktivitätsmuster gleicher Gene an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Dabei werden allerdings die Schwachpunkte dieser Befunde allenfalls angedeutet. Und die gibt es aus heutiger Sicht durchaus.
Gedächtnis der Zellen
Einer der wichtigsten ist, dass eine wirklich stabile, damit über viele
Generationen dauerhafte und für das evolutionäre Potential letztlich
aussagekräftige Vererbung solcher erworbenen Eigenschaften bisher nicht
dokumentiert ist. Ein anderer ist der Modus dieser Weitergabe. Niemand hat
etwa nachgewiesen oder gezeigt, wie das von Kegel als „zweites System
der Vererbung“ bezeichnete und von Spork mit dem griffigeren Schlagwort
„Der zweite Code“ sogar in den Titel gehobene Konzept einer
außergenetischen Vererbung, in der weniger die Genmutation als vielmehr
die Genkontrolle zum Akteur wird, molekularbiologisch funktionieren soll.
Klar ist: Im Laufe eines Lebens werden auf vielen Ebenen in den Zellen Akteure
installiert, die Gene dosieren – sei es durch chemische Markierungen
auf den Kontrollregionen der Erbanlagen oder ihres Verpackungsmaterials
in den Chromosomen, sei es durch die Herstellung kleiner RNA-Nukleinsäureschnipsel,
die die Durchschläge der Genbauanleitungen wie Tipp-Ex zu neutralisieren
vermögen.
Das sind die Hebel des Epigenoms, um über extreme Umweltbedingungen, aber auch über unsere Psyche auf die Aktivität der Gene schon früh einzuwirken und Anpassungen des Körpers zu ermöglichen. Spork hat seinen Schwerpunkt in die Erkundung solcher „Epigenom-Manipulatoren“ gelegt. Sie bilden ein eigenes „Gedächtnis der Zellen“, das durch gesunde, ausgewogene Ernährung zum Guten wie Schlechten moduliert werden kann. Die Herren über unsere epigenetisch agierenden Genkontrolleure zu werden – und dauerhaft zu bleiben –, das ist für Spork einer der vielversprechendsten Zugangswege zu einer neuen Präventionsmedizin.
Auch Kegel warnt vor selbstverschuldeten Einwirkungen auf das Epigenom, die nachweislich etwa Krebs verursachen können. Aber ihm geht es weniger um die individuellen Eingriffsmöglichkeiten als um die Bekanntmachung einer „Theorie für das neue Jahrtausend“. Einer Evolutionslehre, wer weiß, die eines fernen Tages vielleicht tatsächlich als modernisierte Fortschreibung Darwins, der Populationsgenetik und – ja warum nicht – sogar des Lamarckismus daherkommt. Das sicher zu sagen ist noch zu früh. Der Anteil jedenfalls, den die beiden Epigenetik-Autoren an der Popularisierung dieser wichtigen Debatte und der für Laien sicher nicht ganz leicht verständlichen Entwicklung haben, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Deutschlandradio Kultur vom 25.10.2009
Gen Himmel gereckt.
In seinem Werk "Epigenetik" schildert der Biologe
Bernhard Kegel, dass nicht nur Gene vererbt werden, sondern auch die lebenswichtige
Information, ob die Zelle diese benutzen soll oder nicht. Offenbar liegt
unser Schicksal also nicht nur in den Genen.
Von Susanne Billig
Epigenetik - viele werden es schon mal gehört haben, viele werden aber auch nur eine vage Vorstellung davon haben, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. Was ist so wichtig an der Epigenetik, dass der Autor Bernhard Kegel ein ganzes Buch darüber schreibt.
Also hatte Jean Baptiste Lamarck doch recht, der ja so als der große Gegenspieler Darwins gilt und der gesagt haben soll: Die Giraffen haben einen langen Hals, weil sie beim Fressen ständig den Kopf nach oben recken? Und Darwin - hatte er unrecht?
Wie leicht verständlich, wie schwierig ist das alles geschrieben? Ist es für Normalsterbliche überhaupt verständlich, was die Genetiker in ihren Laboren an genetischem und epigenetischem Wissen zusammentragen? Wie gelingt Bernhard Kegel die Übersetzung in unsere Alltagssprache?
Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen: Als das menschliche Erbgut entziffert wurde, hieß es: Damit werden wir schon bald Krebs und andere schwere Krankheiten heilen. Heute ist es stiller um solche Versprechungen geworden. Was prophezeit Bernhard Kegel - wie viel medizinischer Nutzen wird sich aus der Epigenetik ziehen lassen?
An Beispielen dafür, dass die Umwelt Lebewesen massiv und bis in ihren Körperbau hinein beeinflussen kann, mangelt es nicht: Das Wetter entscheidet darüber, wie sich das Fell von Siamkatzen färbt, welche Muster auf den Flügeln von Schmetterlingen entstehen und ob Schildkröten männlich oder weiblich werden. Heuschrecken verwandeln sich, wenn sie mit ihren Artgenossen dicht an dicht leben müssen. Auf einmal wachsen ihnen kräftigen Beine und Flügel und sie fallen in neue Gebiete ein. Wenn Wasserflöhe die Ausscheidungen ihrer Jäger wahrnehmen, wachsen ihnen wehrhafte Dornen. Und aus den genetisch identischen Eiern eines Bienenstockes gehen, je nach Nahrung, emsig-sterile Arbeiterinnen oder fruchtbare Königinnen hervor.
Wie sind solche Phänomene zu erklären? Kennt die Forschung molekulare Mechanismen, die es Umweltfaktoren ermöglichen, Einfluss auf die Aktivität von Genen zu nehmen? Vererben Lebewesen umweltbedingte Eigenschaften auch an kommende Generationen? In seinem neuen Buch "Epigenetik: Wie Erfahrungen vererbt werden" beleuchtet der Biologe und Autor Bernhard Kegel Vererbungsphänomene jenseits der Buchstabenfolge unseres Erbguts.
Da gibt es die "Methylierung" - ein komplexes Muster winziger, chemischer Anhängsel legt Gene still oder gibt sie frei. Hinzu kommen Eiweißkomplexe, die sich mit der DNA dicht verpacken und ebenfalls Gene blockieren oder zur Abschrift freigeben können. Außerdem sind die Chromosomen im Zellkern so gelagert, dass örtliche Beziehungen möglicherweise eigene Botschaften für den Organismus enthalten. All diese Strukturen und "Codes" sind hoch flexibel, interagieren miteinander und sind ihrerseits komplexen Regulationsmechanismen unterworfen.
Wer die Reihenfolge der Einzelbausteine der DNA kennt, kennt den ganzen Organismus, so lautete in den Hochzeiten der Erbgut-Sequenzierung das Credo von Craig Venter, James Watson & Co. Damals warnten nur die als "Fortschrittsfeinde" geschmähten Gentechnik-Kritiker vor dieser allzu simplen Sicht der Dinge. Das molekulare Leben im Inneren des Zellkerns ist vielschichtig, interaktiv und flexibel organisiert - diese Erkenntnis wird in der Wissenschaft nun hoffähig. Mit sympathischem Tonfall und begnadetem Erzähltalent lässt uns der Autor das bunte Treiben von DNA, RNAs, Mini- und Makromolekülen des Zellkerns förmlich miterleben. Der weitgehende Verzicht auf Abbildungen ist da nur konsequent. Bernhard Kegel bedient metaphernreich das innere Auge.
Dass sich die Erkenntnisse der Epigenetik in absehbarer Zeit in neuen Therapien etwa gegen Krebs niederschlagen, hält der Autor für unwahrscheinlich, förderte die Epigenetik doch gerade eine ungeahnte Komplexität zu Tage. Auch warnt er davor, nach dem Gensequenzen-Hype nun der nächsten Euphorie zu verfallen. Zwar fordert Bernhard Kegel eine erweiterte Evolutionstheorie, die der vielfältigen, epigenetischen Kommunikation zwischen Individuum und Umwelt stärker Rechnung trägt. Dennoch wäre es seiner Ansicht nach verfehlt, Charles Darwin und alles, wofür er steht, kurzerhand zu entthronen: So vielschichtig und komplex wie das Leben sollte auch unsere naturwissenschaftliche Anschauung davon sein.