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Ein tiefer Fall
Roman, 508 Seiten
marebuch, Hamburg 2012

Leseprobe

Prolog

 

Eine tief hängende Wolkendecke lag über dem Campus. Windböen trieben das erste Laub vor sich her. Mondlose Dunkelheit. Nur auf der Leibnizstrasse, am Botanischen Garten und entlang der gepflasterten Wege, die durch das parkartige Gelände führten, schufen Straßenlaternen kleine Inseln der Helligkeit. Während der warmen Jahreszeit wurden sie zur tödlichen Falle für unzählige lichtverliebte Insekten. In dieser kalten Oktobernacht gab es hier jedoch weder Kleingetier noch Menschen.

Vom Sportforum kommend, wo er mit mäßigem Erfolg einige Mülleimer inspiziert hatte, trottete allerdings, wie nahezu jede Nacht um diese Zeit, ein Fuchs den Schwarzen Weg entlang, offensichtlich das einzige lebende Wesen weit und breit. Auf den Bürgersteigen war niemand zu sehen, der Musäusplatz zwischen der Mensa und den Fakultätenblöcken verlassen, die angrenzenden Parkplätze leer, sogar die Enten und Möwen waren verschwunden. Ihr Tummelplatz, der „See der Biologen“, wäre in dieser dunklen Nacht nur ein von Sträuchern und Bäumen gesäumtes schwarzes Loch in der Grünfläche des Campus gewesen, wenn in dem dahinter aufragenden Hochhausturm nicht noch hinter zwei Fenstern Licht gebrannt und sich in seinem Wasser gespiegelt hätte.

Dass auf dem Campus bis tief in die Nacht gearbeitet wurde, war nichts Ungewöhnliches, ob in den physikalischen Instituten, bei den Germanisten oder, wie heute, im Biologiezentrum. Wer auf einen geregelten Arbeitstag pochte, hatte in der Wissenschaft nichts verloren. Im Stundenabstand mussten in Labors Versuche kontrolliert, Proben entnommen und Messapparaturen abgelesen werden, an Schreibtischen wurde über Veröffentlichungen und Vorträge gebrütet. Die Wege des Fuchses kreuzten sich daher gelegentlich mit denen erschöpfter Forscher, die zu nachtschlafender Zeit mit gesenktem Kopf ihr Auto ansteuerten, was ihn weder von seinen nächtlichen Patrouillengängen abhielt, noch dazu veranlasste, eine andere Route einzuschlagen. In der Regel waren es die Menschen, die sich bei diesen nächtlichen Begegnungen überrascht zeigten. Der Fuchs hatte sein Gegenüber meist schon frühzeitig bemerkt. Es war ein erfahrenes Tier, das mit fast sieben Jahren ein für Stadtfüchse biblisches Alter erreicht hatte.

Nicht einmal das, was sich vor Jahren auf dem ehemaligen Parkplatz am Biologiezentrum abspielte, hatte ihn vertreiben können. Quasi über Nacht –aus Sicht des damals noch jungen Fuchses, der die Tage in seinem Versteck verschlief – waren massive Metallgitter aus dem Boden gewachsen und hatten ihm den direkten Weg aus seinem Gehölz neben dem Botanischen Garten zum Campusgelände versperrt. Wochenlang hatte die Erde gebebt. Monströse Maschinen hatten sich in den Boden gewühlt und eine tiefe Grube ausgehoben, aus der langsam ein merkwürdig geformter rundlicher Betonbau in die Höhe gewachsen war. Der Fuchs hatte sich daraufhin zwar einen ruhigeren Schlafplatz in der Laubenkolonie hinter dem Botanischen Garten gesucht, seine nächtlichen Touren aber hatten sich kaum geändert. Statt quer über den Parkplatz lief er nun um den Bauzaun herum und seit ein paar Wochen direkt am Eingang des kürzlich eingeweihten neuen Gebäudes vorbei.

Das Tier hatte die nächste Station seines Weges, die großen Abfalltonnen auf der Rückseite der Mensa II, fast erreicht, als plötzlich ungewöhnliche Geräusche zu hören waren, gedämpfte Schreie, ein Poltern, als würden schwere Dinge zu Boden fallen, das Klirren von Glas. Sie kamen aus großer Höhe, aus den oberen Stockwerken des Biologiezentrums.

Der Fuchs spitzte die Ohren, verharrte für einen Moment unbeweglich an Ort und Stelle und schnupperte in die Nacht. Natürlich hatte er keine Ahnung, dass die Geräusche Teil einer Kette von Ereignissen waren, die die Stadt Kiel, ihre Universität und zahllose Wissenschaftler in aller Welt über Wochen in Atem halten sollte, und in der ihm eine kleine, aber nicht unwichtige Rolle zugedacht war. Für den Fuchs ging es in diesem Moment einzig und allein darum, wie das seltsame Gepolter einzuschätzen war. Sollte er auf seinen Abstecher zu den Mensaabfällen verzichten oder ihn verschieben? Meistens war dort nicht viel zu holen. Ausgerechnet an einem Ort, wo Essensgerüche eine für Füchse geradezu schmerzhafte Intensität erreichen konnten, achteten die Menschen peinlich auf Sauberkeit. Aber es hatte schon Ausnahmen gegeben, Deckel, die nicht ganz geschlossen waren und ihm Gelegenheit zu denkwürdigen Festmählern boten, Ausnahmen, die jede Mühe und jedes Risiko wert waren. Außerdem konnte er hier ab und zu eine fette Ratte erwischen. Der Fuchs verharrte, minutenlang. Bis wieder Stille eingekehrt war.

Gerade als er seinen Weg wie gewohnt fortsetzen wollte, fuhren im obersten Stock des Hauses plötzlich zwei Rollos in die Höhe und gaben einen erst schmalen, dann immer breiter werdender hellen Lichtstreifen frei. Kurz darauf erschien an einem der Fenster eine mit einem weißen Laborkittel bekleidete menschliche Gestalt. Ihre Hand ruhte auf dem Fenstergriff, doch sie verharrte zunächst reglos und schien nur nach draußen in die Dunkelheit zu starren. Kurz darauf zerriss ein Krachen die nächtliche Stille, so laut, dass es bis hinunter auf den Schwarzen Weg zu hören war. Jemand rüttelte heftig an einem Fenster, das schon lange nicht mehr geöffnet worden war.

Der Fuchs hatte mit gesträubten Nackenhaaren ausgeharrt, doch als sich der große Fensterflügel endlich mit einem lauten Quietschen nach innen bewegte, reichte es ihm. Sein Weg würde ihn dicht am Ort des Geschehens vorbeiführen. Er fiel in leichten Trab und lief, immer schneller werdend, auf dem Schwarzen Weg zum Mensaparkplatz und weiter bis zum Biologiezentrum. Das helle Licht brannte noch immer, er vermied es aber, nach oben zu schauen. Das Fahrrad, das an einem der vielen, den Weg zum Eingang säumenden Stahlbögen angeschlossen war, beachtete er nicht, genauso wenig wie die beiden PKWs, die hinter dem Biologiezentrum parkten. Er wollte nur noch weg von hier. Und da alles, was nach dem Öffnen des Fensters geschah, völlig geräuschlos vor sich ging, sah er auch den in diesem Moment aus dem zwölften Stock herabstürzenden menschlichen Körper nicht. Er hörte nur den dumpfen Laut, als etwas hinter ihm auf ein Dach des Flachbaus aufschlug, zuckte zusammen, schoss ein paar Meter nach vorne, wandte sich schließlich mit zitternden Flanken um und blickte nach oben zur Dachkante. Wenige Meter dahinter ragte der Hochhausturm empor. Das Fenster, an dem die Gestalt gestanden hatte, war offen, der dazugehörige Raum nach wie vor hell erleuchtet. Davon abgesehen war nichts Ungewöhnliches zu erkennen.

Doch Sekunden nach dem Aufprall kroch ein beunruhigender Geruch auf ihn zu, der von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Er kam vom Dach und es roch nach Mensch und immer intensiver nach Blut.

Gleichzeitig hörte er ein seltsames Geräusch in der Dunkelheit. Ein papiernes Etwas flatterte wie ein riesiger Schmetterling vom Himmel und blieb nur wenige Meter vor ihm auf dem Boden liegen. Er zögerte einen Moment, doch bald siegten Neugier und Zorn über die nicht enden wollende Kette von Belästigungen, die ihm die menschlichen Bewohner dieser Stadt zumuteten. Er lief hin, schnupperte daran, biss wütend in das blau-weiße Ding hinein, schüttelte es knurrend, rannte damit am Eingang des nagelneuen Zentrums für Molekulare Biowissenschaften vorbei zum Botanischen Garten und verschwand irgendwo im Gebüsch.

 

 1

 

Hermann Pauli schreckte hoch, verschlafen und alarmiert zugleich. Ein reales Ereignis oder ein Traum – er erinnerte sich dunkel, intensiv geträumt zu haben – , irgendetwas hatte dazu geführt, dass eine hohe Dosis Adrenalin durch seine Gefäße raste und er nun desorientiert und mit weit aufgerissenen Augen um sich blickte, als habe er im Schlaf den eisigen Atem des Leibhaftigen im Nacken gespürt. Aber er sah nur die vertrauten Umrisse von Bücherregalen und Sammlungsschränken, das Mikroskop auf seinem Tisch in der Ecke und die Fensterfront dahinter, die über die gesamte Breite des Zimmers ging, und beruhigte sich. Er war im Institut, in seinem Arbeitszimmer hoch über dem Campus der Universität, seinem Lebensmittelpunkt seit vielen Jahren, und er war mit dem Kopf auf den Unterarmen am Schreibtisch eingeschlafen, wie er es von Studenten kannte, die in seiner Vorlesung am Montagmorgen mit den Nachwirkungen eines durchfeierten Wochenendes zu kämpfen hatten. Kein Grund zur Aufregung.

Doch ein ebenso unwirkliches wie hartnäckiges Gefühl der Bedrohung blieb. Vermutlich war er jetzt allein im Haus. Als er nach dem Abendessen zurück ins Institut gekommen war, hatte zwar im obersten Stock schräg über seinen eigenen Räumen noch Licht gebrannt, im „Forschungsolymp der Christian-Albrechts-Universität“, wie eine Zeitung erst kürzlich wieder getitelt hatte. Frank Moebus und seine Mitarbeiter waren fast immer die letzten, die im Biologiezentrum das Licht löschten. Mittlerweile dürfte aber auch in diesem Labor Ruhe eingekehrt sein.

Hermann presste die Augenlider zusammen und streckte sich. Wie lange hatte er geschlafen? Er berührte die Leertaste, um den Rechner aufzuwecken, und blickte auf den großen Computerbildschirm, wo oben rechts die Uhrzeit stand. Höchstens zwanzig Minuten, schätzte er. Es war kurz nach Mitternacht, genau 0 Uhr 12. Geisterstunde.

Was hatte ihn geweckt? Hatte er etwas gehört? …

© 2012, marebuch, Hamburg

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