Der Rote

Buchumschlag: Das Ölschieferskelett
Der Rote
Roman, 544 Seiten
marebuchverlag, Hamburg 2007

Leseprobe

1. Kaikoura

Maui
Wieder war er schweißgebadet aufgewacht. Seit Tagen fand er abends nicht in den Schlaf, dann folgten Nächte, so kurz und wenig erholsam, dass es ihm beim ersten müden Blinzeln am Morgen vorkam, als hätte es sie gar nicht gegeben. Hermann Pauli kannte diesen Zustand, er hatte weiß Gott genug Zeit im Kampf mit quälenden Gedankenspiralen verschwendet, die irgendwann nur noch um sich selbst kreisten. Er hatte es kommen sehen und vielleicht sogar provoziert. Es war schließlich seine Entscheidung gewesen, hierher zu fahren, um in den eigenen alten Fußstapfen zu wandeln. Er hatte versucht, sich zu wappnen, aber als der Rückfall dann mit Urgewalt über ihn hereinbrach, hatte er nur noch Schutz suchen können und gehofft, das Unwetter würde sich bald ausgetobt haben und vorüberziehen.

Doch dieser Morgen war anders. Die aufgehende Sonne schickte helle Lichtpfeile durch das Gebüsch hinter den Dünen ins Innere seines Campingbusses. Das monotone Getrommel des Regens auf dem Wagendach war verstummt. Stattdessen – Hermann konnte es kaum glauben – hörte er munteres Vogelgezwitscher. Er schlug die Augen auf, rollte sich zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und war sofort hellwach. Endlich. Heute würde er sich nicht durch den Tag quälen müssen, würde nicht auf ihr Foto starren und sich nach dem Warum fragen und wie es zu Hause weitergehen sollte. Die Sonne schien. Und er hatte etwas vor. In wenigen Stunden würde er Wale sehen.

Den Weg zum Duschhaus sparte er sich und erledigt die Morgentoilette zu John Lee Hookers grummeliger Greisenstimme rasch an der kleinen Spüle im Wagen. Er pumpte Wasser in das Becken und brummte mit, I’m in the moohood, baby

Als er sich das Gesicht abgetrocknet hatte, verharrte er einen Augenblick und schenkte dem schmucken kleinen Technikwunder, das vorne auf der Ablage thronte, einen liebevollen Blick. Den MP3-Player hatte er, mit Dateien vollgestopft, von zu Hause mitgebracht, die Konsole mit den beiden Lautsprecherboxen bei der Zwischenlandung in Singapur auf dem Flughafen gekauft. Eine gute Entscheidung. Ohne die Musik, das dachte er heute nicht zum ersten Mal, ohne seinen Bach und den in Australien wiederentdeckten Blues hätte er das alles nicht durchgestanden.

Auf der Fahrt die Küstenstraße entlang hörte er The Healer. Es war John, der ihm vor Monaten Hookers letzte Alben mitgebracht hatte, weil er das einseitige Musikangebot seines Kollegen nicht mehr ertragen konnte. Mittlerweile war Hooker tot, aber Ende der Achtziger hatte eine Plattenfirma den greisen Bluesrecken aus der Versenkung geholt und ihm eine musikalische Frischzellenkur verpasst, die ihn weltberühmt machte. Hermann, der sein altes Idol seit Jahrzehnten aus den Augen verloren hatte, reagierte mit Befremden. Wie konnten sie es wagen, aus John Lee, der unverfälschten minimalistischen Blues spielte, einen verdammten Popstar zu machen? Aber dann hatte er Gefallen gefunden an den alten Songs im neuen Gewand. Sie beförderten ihn auf eine Zeitreise zurück ins Göttingen der sechziger und siebziger Jahre. Er studierte damals Biologie, aber wenn er gerade keine Pflanzen bestimmte oder sich in den Innereien eines Regenwurms zu orientieren versuchte, verbrachte er jede freie Minute im muffigen Übungsraum der Electric Hookers. Sie hatten etliche Songs ihres damals fast unbekannten Namengebers im Programm. Hermann spielte die Rhythmusgitarre.

Inzwischen begleitete ihn John Lee Hookers Musik auf Schritt und Tritt, und er war froh über das Comeback. Er bewunderte den Mann, der es im biblischen Alter von siebzig Jahren geschafft hatte, sich noch einmal vollkommen neu zu definieren. Und er beneidete ihn um seine zweite Chance. Manchmal wünschte er, es käme jemand, ein Healer, der auch ihm ein neues Leben schenkte, einen neuen Anfang. Aber ihm half niemand. Er würde wohl in Zukunft sein eigener Heiler sein müssen.

Hermann war die Strecke nach Kaikoura in den letzten Tagen schon ein paar Mal gefahren, achtete kaum auf die Umgebung und hing seinen Gedanken nach. Was wohl aus den Jungs von der Band geworden war. Zu Bennie hatte er noch Kontakt. Er war Internist in Lübeck, stolzer Vater von drei Kindern, ein rundlicher Mann mit schütterem Haar, mit dem er gelegentlich Essen ging und in alten Erinnerungen schwelgte. Bennie setzte sich immer noch im Keller seines Hauses hinter das Schlagzeug, um, wie er es nannte, ein wenig zu grooven. Ganz relaxed, versteht sich, rein zur Entspannung. Als Drummer der Electric Hookers war Entspannung für Bennie ein Fremdwort gewesen. Er hatte so wild auf die Felle eingedroschen, dass ihnen die Bruchstücke seiner Sticks um die Ohren flogen.

Von den anderen hatten sie lange nichts gehört. Hermann musste lachen, als er an Pit dachte. Sie hatten ihn Floh genannt. Er war nur einsdreiundsechzig groß, und um mit Bennies Energie mitzuhalten, spielte der Arme sich auf den scheppernden Seiten seines riesigen Fenderbasses regelmäßig die Fingerkuppen blutig. Mein Gott, warum er jetzt an diese alten Geschichten denken musste, ausgerechnet hier, am anderen Ende der Welt.

Bei einem Konzert der Hookers hatte er Brigitte getroffen, vor über dreißig Jahren. Vielleicht deshalb. Die Biologie und die Musik, das war damals sein Leben. In wen hatte sie sich eigentlich verliebt, dachte er plötzlich. In den langhaarigen Gitarristen, der mit seinen Kumpels auf Unifesten den wilden Mann markierte, oder in den scharfen Analytiker, den Wissenschaftler, der damals schon in ihm steckte? Dass er sie nie danach gefragt hatte …

Er schüttelte verwundert den Kopf und schaltete die Musik aus, um sich auf die Fahrt und den bevorstehenden Ausflug zu konzentrieren. Die ersten Häuser von Kaikoura tauchten auf. Er würde gleich da sein.

Als er seinen Bus abgestellt hatte und aus der Wagentür kletterte, herrschte auf dem weitläufigen Parkplatzgelände schon lebhafter Betrieb. Vor geöffneten Kofferraumhauben wurden Jacken, Pullover, Wasserflaschen und Obst in Taschen und Rucksäcke gestopft. Aus zwei Reisebussen quoll eine laut durcheinanderredende Touristengruppe, alle in Turnschuhen und bunten Windjacken. Mütter und Familienväter versuchten, ihre aufgeregten Kinder im Auge zu behalten. Überall erwartungsvolle Gesichter, Lachen, Vorfreude und Begeisterung über das herrliche Wetter. Hermann hatte geahnt, dass er nicht der Einzige sein würde – in den vergangenen Tagen waren alle Bootstouren wegen des Regens und der rauen See gestrichen worden –, aber mit einem derartigen Andrang hatte er nicht gerechnet. Seine Enttäuschung machte sich in einem tiefen Stöhnen Luft und er überlegte, ob er zurück auf den Campingplatz fahren sollte. Aber er hatte gestern für teures Geld einen Platz auf dem Zehn-Uhr-Boot gebucht und zu lange auf diesen Moment gewartet.

Er atmete tief durch, schulterte den ausgeblichenen Leinenrucksack, der ihn seit Jahren auf seinen Reisen begleitete, und lief an einer langen Reihe von Pkws und Campervans vorbei auf das Terminalgebäude zu. Dass es sich um einen umgebauten Bahnhof handelte, erkannte man nur an den Gleisen, die an der Rückseite des Flachbaus vorbeiführten. Noch immer hielten hier täglich zwei TranzCoastal-Züge aus Picton und Christchurch, doch die Bahngleise – vor fünfzig Jahren in einem Ort, der jahrzehntelang nur über das Meer zu erreichen war, noch eine gefeierte Sensation –, waren zur Nebensache geworden. Jetzt beherrschte Whale Watch Ltd. die Szenerie. Und der Wandel hatte Symbolwert. Wer heute als Reisender in Kaikoura halt machte, kam – wie die ersten weißen Siedler vor hundertfünfzig Jahren – vor allem wegen der Wale.

Froh darüber, dass er sich nicht in eine der langen Schlangen vor den Ticketschaltern einreihen musste, ging Hermann außen an dem Gebäude entlang bis zum Eingang des Cafés, wo er sich ein Chicken-Sandwich und einen doppelten Espresso bestellte und mit dem Tablett draußen auf die Treppenstufen setzte. Drei Tage hatte er viele Stunden lesend, dösend und frierend allein in seinem Bus verbracht, was seiner Stimmung alles andere als zuträglich gewesen war. Aber das Warten hatte sich gelohnt. Wo vorher nur Regenschleier und dunkle Wolkenmassen zu sehen waren, funkelten heute die mit frischem Neuschnee bepuderten Gipfel der Kaikoura Range in der Morgensonne. Auf der Fahrt hatte er es kaum registriert, aber die Bergkulisse im Landesinneren war so grandios, dass er sich kaum sattsehen konnte. Sie umgab die Halbinsel wie die Zuschauerränge eines riesigen Amphitheaters. Es ist doch gut, dass ich hierher gekommen bin, dachte er und biss in sein Sandwich. Er hatte vergessen, wie schön dieser Ort ist.

Abgesehen von dem Besuch der Fischereitagung in Auckland, die vor vier Tagen zu Ende gegangen war, hatte er für die letzten zwei Wochen seiner langen Forschungsreise keine konkreten Pläne gehabt. Er dachte daran, mit der Bahn quer durch die neuseeländische Nordinsel zu fahren, um in Wellington einen Freund seines Australischen Kollegen John Deaver zu besuchen. «Glaub mir», hatte John gesagt. «Raymond ist genau der Richtige, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Du wirst sehen, ihr geht irgendwo am Strand spazieren, und ehe du dich versiehst, stolpert ihr über einen Riesenkalmar.»

Doch im National Institute of Atmospheric & Water Researchhatte ererfahren, dass Raymond Holmes mit einem Forschungsschiff im Südpazifik unterwegs sei. Also hatte er seinen Plan geändert, war auf die Südinsel geflogen, hatte sich ein weißes Campingmobil mit Kühlschrank und Gaskocher gemietet, und, wie damals vor über zehn Jahren, Kaikoura angesteuert, das etwa drei Autostunden nördlich der Inselmetropole Christchurch liegt. Er hoffte, sich hier, an einem Ort, den er schon einmal mit seiner Familie besucht hatte, daran zu gewöhnen, dass ihn die Erinnerungen auf Schritt und Tritt verfolgten. Bevor es zu Hause kein Entkommen mehr geben würde.

© 2007, marebuchverlag, Hamburg

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